Vielen Dank an Jürgen für diesen ausführlichen Bericht. Kontakt zum Autor über info@plexuskinder.de.
STECKBRIEF:
Geboren 1960, aufgewachsen im Sauerland, Studium des Maschinenbaus in Aachen, bis heute hier ansässig.
PLEXUS PARESE:
Geburtstrauma, rechts, die Außendrehung ist vollständig gelähmt, den Arm bekomme ich nur bis in die Waagerechte angehoben und nicht selbstständig auf den Rücken. Arm verkürzt (ca. 7-8 cm) und verkrümmt, hauptsächlich im Ellenbogengelenk. Handgelenk bei Druckbelastung instabil, Schultergelenk schon lange stark verschlissen, da ein Hauptmuskel (ich kann ihn leider nicht benennen), der das Gelenk führt und zusammenhält, praktisch nicht vorhanden ist.
BERUF:
Abschluss als Dipl.-Ing. Maschinenbau 1986, sechs Jahre Abteilungsleiter in einem sogenannten Spin-Off der Hochschule, danach selbstständig tätig als Maschinenbau- Ingenieur, bis heute.
PRIVAT:
Verheiratet, zwei erwachsene Töchter, ein Airedale, alles bestens!
FREIZEIT:
Die Familie, mein Hund Alf, der Schwimmteich im Garten, Motorradfahren.
SPORT:
Windsurfen (bis ich ca. 35 war), Squash (bis vor 4-5 Jahren), Badminton (bis vor 2 Jahren), Skifahren (zuletzt vor 4? Jahren, hoffentlich aber nicht zum letzten Mal!).
Nachtrag: Nachdem ich diesen Text zum ersten Probelesen gegeben habe, wurde ich gebeten, hier zu erwähnen, dass ich auch jetzt nicht nur im Schaukelstuhl sitze. So höre sich der Absatz nämlich an. Also:
Meine sportlichen Aktivitäten haben sich verändert, auch verringert, sind aber nicht zum Erliegen gekommen. Heute bin ich täglich mit dem Alf ca. zwei Stunden in der Natur und gehe spazieren. Zusätzlich betreibe ich einigermaßen regelmäßig Kraftsport zur Pflege und dem Erhalt der Muskulatur. Mein Physiotherapeut meint, das ist eine sehr gute, altersgerechte Mischung. Na also. Motorradfahren tue ich auch noch, aber nicht mehr so intensiv wie früher (Alf lässt grüßen).
FRÜHE KINDHEIT:
Die einzigen tieferen Erinnerungen: Schuhe binden war für mich im Kindergarten ein größeres Problem als bei anderen. Schwimmen habe ich schnell gelernt, mein Vater war ein guter Sportler, der Bademeister im Freibad ein Bekannter von ihm. Da mein Vater in körperlichen Dingen recht unerschrocken gewesen ist (Kriegsteilnehmer), bin ich schon mit dem Schwimmreif um den Bauch vom 3m-Brett gehüpft. Das alles hat geholfen.
GRUNDSCHULE:
Das „böse“ Schreiben mit der linken Hand…..Anders ging es nicht wirklich, gerne gesehen hat man es damals noch nicht. Der Übergang auf den Füller war schwierig, viel Schmiererei im Heft, kratzende Feder, Verkrampfung in Arm und Hand, schlechte Noten in „Schönschrift“. Sonst keine schulischen Probleme, keine Sonderbehandlung, jedenfalls für mich nicht wahrnehmbar und von meinen Eltern nicht erwartet. Beim Sport wurde vielleicht ein bisschen Rücksicht genommen und wahrscheinlich waren die (nicht besonders guten) Noten hier mehr am Einsatz als am Ergebnis orientiert.
GYMNASIUM:
Ich bin direkt in einer der ersten Englisch-Stunden von der Tafel in die Bank zurück geschickt worden, weil die Schrift nicht „schön“ genug war. Pädagogisch ungeschickt, der Lehrer ist auf immer mein Feind gewesen, Englisch hat mich nicht mehr interessiert. Natürlich habe ich mich damit selber ins Aus gestellt, aber das konnte ich mit 10 Jahren noch nicht erkennen.
Dann die Skifreizeit mit 14 Jahren: Am Nebentisch höre ich einen der Betreuer sagen: „Den mit dem kaputten Arm will ich nicht in meiner Gruppe haben“. Ich blieb trotzdem drin, da diese Gruppe für die totalen Anfänger war, wozu ich leider gehörte. Entsprechend war meine Stimmung auf dem absoluten Tiefpunkt und das Skifahren war mir völlig verleidet.
Und sonst? Wieder keine Sonderbehandlung, die üblichen Probleme in der Pubertät (große Faulheit, kein Interesse an gar nix, schon gar nicht, wenn es mit Schule zusammenhing). Der größte Kampf in dieser Zeit: Gegen den Willen meiner Mutter (die sich natürlich Sorgen machte) den Kauf eines Mofas durchzusetzen. Nach einem halben Jahr hat sie aufgegeben und ich war mobil und glücklich.
Abitur 1978 zwar mit schlechtem Schnitt, aber problemlos geschafft. 1978 war auch das Jahr des Führerscheins und damit verbunden des ersten Autos (natürlich ein Käfer), das war zu dieser Zeit auch viel wichtiger als der Abi-Schnitt. Die Führerscheinprüfung habe ich natürlich auf einem Schaltwagen gemacht, eine Beschränkung auf Automatikwagen wegen des Armes wäre eine Katastrophe gewesen. Hat alles geklappt.
WEHRDIENST (JA, DEN GAB ES DAMALS NOCH!):
Fiel aus, ich wurde sofort ausgemustert. Damals war ich froh, hätte bei Tauglichkeit auch direkt verweigert. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, ich hätte bestimmt auch mit körperlichen Einschränkungen meinen Beitrag leisten können und es hätte mir und auch der Bundeswehr wahrscheinlich nicht geschadet.
STUDIUM:
In der Einführungsveranstaltung habe ich einen ehemaligen Mitschüler wieder getroffen, heute ist er mein Schwager und ein Freund dazu. Zu Schulzeiten war er ein durchtrainierter, erfolgreicher Schwimmer, ein exzellenter Skifahrer ist er bis heute. Er hat mir den Spaß am Sport wiedergegeben, indem er mir immer wieder gesagt hat, du kannst das schon. Vielleicht nicht so wie wir, aber auf deine Weise schon.
Wir sind zusammen zum Schwimmen und Tauchen (mein Streckenrekord: 50m- Becken ohne Startsprung, ich bin immer noch stolz) gegangen, haben unsere Sprünge vom Dreier und Fünfer geübt. Dann kam der erste gemeinsame Ski-Urlaub, in dem er mir sehr viel gezeigt hat. Und ich habe endlich gemerkt: das macht Spaß! Was ich nicht kann, wird eben weggelassen (Stock-Einsatz rechts z. B.). Geht auch so und manchmal geht es eben schief. Ich bin einmal vor aller Augen und zum großen Gelächter im Stand nach rechts aus dem Schlepplift gekippt, weil mein linker Ärmel irgendwie festhing und ich den rechten Stock nicht in den Schnee bekam. Ja und? Aus heutiger Sicht: Wer sich davon den Spaß verderben lässt, ist selber schuld!
Dann ging es los mit dem Surfen. Die Bretter wurden selbst gebaut, erste Versuche auf dem Kühlwassersee des Kraftwerks Weisweiler. Später dann in Ostfriesland, einmal im französischen Atlantik. Parallelen zum Skifahren: Die sogenannte Powerhalse habe ich nie geschafft, ob es am lädierten Arm oder an mangelndem Talent lag: Keine Ahnung und auch egal, denn ich habe meinen Spaß trotzdem gehabt. Den Wasserstart dagegen habe ich schlussendlich hinbekommen und es ist ein großartiges Gefühl, wenn einem der Wind die Arme so langzieht, dass man aus dem Wasser auf das Brett kommt (es fühlt sich ähnlich an, wie ein starkes Motorrad beim Beschleunigungsvorgang)!
Studieninhalte und in dieser Zeit gesammelte sonstige Erfahrungen überspringe ich, denn sie haben letztendlich nichts mit dem Plexus zu tun gehabt. Irgendwann war es vorbei, ich bekam eine Urkunde und einen ersten Job bei einer „hochschulnahen“ kleinen Firma und begann meine Berufslaufbahn.
ERWACHSEN:
Meine Behinderung rückte im Alltag immer mehr in den Hintergrund, denn sie spielte weder in meinem privaten noch in meinem beruflichen Umfeld eine erwähnenswerte Rolle. Einzig, wenn es darum ging, Lampen unter der Decke anzuschließen, wurde ich damit konfrontiert, denn das ist etwas, wo mir ein zweiter gesunder Arm wirklich fehlt.
Anfang 30, ich war verheiratet und unsere erste Tochter war bereits geboren, habe ich dann den Motorradführerschein nachgeholt. Den hatte mir meine Mutter 1978 unter Androhung wirtschaftlicher Sanktionen (kein Zuschuss zum Käfer und zum Autoführererschein) madig gemacht Es brauchte drei Ärzte, um das geforderte positive fachärztliche Gutachten zu bekommen. Der erste „konnte es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren“ mich Motorrad fahren zu lassen. Der nächste hielt es für „völlig ausgeschlossen“, dass ich dazu in der Lage sei. Der dritte hat seine Assistentin zum Schrank mit der Literatur geschickt und unter „Behinderung“, „Führerschein“ und „Motorrad“ suchen lassen. Es fand sich dann eine Richtlinie, in der Zahlenwerte zum zulässigen Unterschied der Armlängen und der Handkräfte zu finden waren. Meine Werte passten noch ins Raster und das war ́s dann auch schon. Seitdem bin ich in Summe ca. 200.000 km Motorrad gefahren, es war für lange Zeit mein wichtigstes Hobby.
Natürlich musste es nach der Anfangsphase etwas Schnelles und Großes sein, heute steht in der Garage eine sogenannte Großenduro und ein inzwischen zwanzig Jahre alter Supersportler. Die Enduro nehme ich für meine gelegentlichen Touren, den Sportler nur noch selten, wenn ich noch mal wissen will, wie es sich damals, als ich noch jung war, angefühlt hat….. : )
UND HEUTE:
….bin ich ziemlich im Reinen mit meinem nicht makellosen Körper. Man lernt im Laufe des Lebens, dass einem noch viel Schlimmeres widerfahren kann als eine solch lächerliche Einschränkung der körperlichen Fähigkeiten. Meine diversen Wehwehchen stehen teilweise durchaus im Zusammenhang mit der Plexuslähmung. Die Asymmetrie des Oberkörpers zieht sich langfristig dann doch in alle Bereiche hinein (Beckenschiefstand, Hüftgelenk-Arthrose, Wirbelkanäle besonders rechts verengt, Daumensattelgelenk, Handgelenk und Schulter links stark verschlissen… es kommt so einiges zusammen). Aber, siehe oben: es gibt deutlich schlimmere Schicksale, die genannten Beispiele betreffen auch ganz viele Altersgenossen ohne eine Plexuslähmung.
WAS ICH SAGEN WILL:
Den betroffenen Kindern: Achtet nicht auf „die Anderen“, was sie sagen, wie sie gucken, es ist egal. Macht euer eigenes Ding. Wer will, der kann! * Nehmt euch wichtig, aber nicht zu sehr. Und lasst euch den Spaß am Leben nicht verderben, es gibt viel Schlimmeres als das, was euch passiert ist! Vergesst das nicht!
Den betroffenen Eltern: Lasst sie machen, eure „behinderten“ Kinder! Packt sie nicht in Watte. Sie können mehr, als ihr glaubt! Ängstigt sie nicht mit eurer eigenen Angst, dass etwas passieren könnte. Es kann immer etwas passieren. Muss es aber nicht. Dazu abschließend ein Zitat, von wem auch immer, ich weiß es nicht mehr:
„Kinder sind wie Uhren. Man darf sie nicht nur aufziehen, man muss sie auch laufen lassen.“
Und das gilt in diesem speziellen Fall sogar im ganz ursprünglichen Wortsinn!
* Beispiele: Früher war das 4-Ganggetriebe der Standard in den PKWs. Dann wurden es fünf Gänge, jetzt hat mein Auto auch noch einen sechsten Gang. Wenn ein Gang dazu kam, musste ich mir den neuen Bewegungsablauf jedes Mal erarbeiten und üben, üben, üben.